
Das Jahr 1936 markiert einen tiefen Einschnitt in der Geschichte Äthiopiens. Die italienische Invasion und die darauffolgende Eroberung der Hauptstadt Addis Abeba lösten eine Welle von Schock und Verwirrung in ganz Afrika aus. Es war ein Sieg für Mussolini, aber auch ein tragischer Moment für das einst stolze Aksumitenreich. Dieser Konflikt wirft Licht auf die komplexe Rolle eines Mannes: Negussä Negest Haile Selassie I., dem letzten Kaiser Äthiopiens, der sich mit aller Kraft gegen die italienische Aggression stellte.
Ein Kaiser zwischen Tradition und Moderne
Haile Selassie I., geboren als Tafari Makonnen, bestieg den Thron 1930. Er war ein Mann der Widersprüche: tief verwurzelt in den Traditionen seines Volkes, gleichzeitig aber offen für moderne Ideen und Fortschritt. Seine Herrschaft begann mit ambitionierten Reformen: er modernisierte die Verwaltung, förderte den Bildungsaufstieg und setzte sich für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes ein. Doch seine Vision einer unabhängigen und prosperierenden Äthiopien geriet durch den italienischen Expansionsdrang ins Wanken.
Die Italiener am Horn von Afrika
Benito Mussolini träumte von einem italienischen Kolonialreich in Afrika. Er sah in Äthiopien, dem einzigen unabhängigen Staat auf dem Kontinent, ein Hindernis auf seinem Weg zur imperialen Größe. Im Oktober 1935 begann Italien mit einem großangelegten Angriffskrieg gegen Äthiopien.
Die Schlacht um Addis Abeba: Ein Kampf David gegen Goliath
Das äthiopische Militär, zwar tapfer und entschlossen, war technologisch unterlegen. Die Italiener verfügten über moderne Flugzeuge, Panzer und Artillerie, während die äthiopischen Truppen hauptsächlich mit Gewehren und Schwertern ausgerüstet waren. Trotz heftiger Gegenwehr konnten sie den Vormarsch der italienischen Streitkräfte nicht stoppen. Am 5. Mai 1936 fiel Addis Abeba in italienische Hände.
Haile Selassie I. vor der Völkerbund: Ein Appell an die Weltgemeinschaft
Die Eroberung Addis Abebas löste internationale Empörung aus. Haile Selassie I. reiste nach Genf und appelliert an den Völkerbund um Hilfe. In seiner legendären Rede schilderte er die Grausamkeit des italienischen Angriffskriegs und forderte die Weltgemeinschaft zum Eingreifen auf.
Doch seine Worte verhallten weitgehend ungehört. Der Völkerbund, geschwächt durch die globale Wirtschaftskrise und die wachsende Bedrohung des Nazismus, war unfähig oder unwillig, wirksame Sanktionen gegen Italien zu ergreifen.
Die italienische Besatzung: Ein dunkles Kapitel in der äthiopischen Geschichte
Die folgenden fünf Jahre waren eine Zeit des Grauens für Äthiopien. Die italienischen Faschisten etablierten ein brutales Kolonialregime. Sie unterdrückten jegliche Form von Widerstand, plünderten die Ressourcen des Landes und versuchten, die äthiopische Kultur und Identität zu zerstören.
Doch der Widerstand gegen die Besatzer flammte weiter auf. In den Bergen und in den Tälern kämpften äthiopische Partisanen unermüdlich für ihre Freiheit. Haile Selassie I. blieb im Exil aktiv und leitete die internationale Kampagne für die Befreiung seines Landes.
Die Befreiung Äthiopiens: Der Triumph des Widerstands
Im Zweiten Weltkrieg schlossen sich Italien und Deutschland gegen die Alliierten an. Nach der Niederlage Italiens in Nordafrika 1943 begann die Befreiung Äthiopiens. Britische Truppen rückten von Sudan her vor, während äthiopische Partisanen den Kampf fortsetzten. Am 5. Mai 1941, genau fünf Jahre nach der Eroberung Addis Abebas, kehrte Haile Selassie I. in seine Hauptstadt zurück und nahm seinen Platz als Kaiser wieder ein.
Die Nachwirkungen der italienischen Besatzung
Die italienische Besatzung hinterließ tiefe Wunden in der äthiopischen Gesellschaft. Aber sie stärkte auch den nationalen Zusammenhalt und den Willen zur Selbstbestimmung. Haile Selassie I. setzte nach seiner Rückkehr die Modernisierung Äthiopiens fort und leitete das Land in eine neue Ära ein.
Die Geschichte des italienischen Angriffskriegs gegen Äthiopien ist eine Mahnung gegen Imperialismus und Unterdrückung. Sie zeigt aber auch die Stärke und den Widerstandswillen eines Volkes, das um seine Freiheit kämpft.